Nati-Captain Gökhan Inler (31) spricht Klartext: Warum ihn ein Entscheid von Vladimir Petkovic tief traf. Wieso ein Wechsel zu Schalke möglich ist. Weshalb er einen Nati-Rücktritt nach der EM ausschliesst.
Gökhan Inler sitzt im Allerheiligsten, in der Kabine von Leicester City. An der Wand hängt ein riesiger Bildschirm, auf welchem Trainer Claudio Ranieri vor dem Spiel und manchmal auch in der Pause Spielszenen bespricht.
Inler war zuletzt nicht oft darauf zu sehen. Über Monate darf er nicht von Anfang an ran, auch die letzten Einsätze ändern die Gesamtsituation nur unwesentlich. Unangenehm für den Nati-Captain, der so die EM 2016 in Frankreich zu verpassen droht.
Gökhan, was ist hier in Leicester schief gelaufen?
Gökhan Inler: Ich habe es mir natürlich zu Beginn etwas anders vorgestellt. Ich bin zu einer Mannschaft gekommen, die seit der Rückrunde der letzten Premier-League-Saison eine Riesen-Serie hat. Die nicht verliert. Am Anfang war ich in der Mannschaft, doch dann lief es aus meiner Sicht unglücklich: Als ich spielte, lagen wir in Rückstand. Als ich ausgewechselt wurde, drehten wir mehrere Partien... Und blieben lange an der Spitze der Premier League. Was soll ein Trainer wechseln, wenn er nicht verliert?
War es ein Fehler, zu Leicester zu gehen?
Hundertprozentig sicher nicht. Ich habe meinen Entscheid nie bereut. Ranieri wollte mich im Sommer unbedingt hierher holen. Der Wechsel war wohl überlegt.
Sie waren mit Ihren Auftritten aber auch nicht zufrieden, oder?
Ich kam nach acht Jahre in Italien in ein Land, wo völlig anderer Fussball gespielt wird. Es ist schneller und körperlich anspruchsvoller. Es gibt mehr Zweikämpfe, es wird weniger gepfiffen. Es ist eine Umstellung.
Hat Ranieri Ihnen einen Gefallen getan, als er Sie als «unseren Maradona» ankündigte?
Pah, Maradona, das ist doch etwas anderes... Bei der Aussage ging es ja um die Bedeutung meiner Verpflichtung aus Vereinssicht. Klar schmerzt es mich, auf der Bank zu sitzen. Aber es ist für mich eine riesige Herausforderung und ich nehme sie an. Ich kenne die Situation: Als ich ganz jung war, hatte ich das bei Aarau auch, da war ich ebenfalls Ersatz. Aber ich will mich durchbeissen.
Gut und recht. Trotzdem müssen Sie doch an Wechsel denken im Hinblick auf die EM in Frankreich.
Ich bin keiner, der unbedingt wechseln und abhauen will. Das ist nicht mein Charakter. Aber ein Wechsel ist sicherlich möglich. Das hängt auch vom Verlauf der nächsten Wochen ab.
Nun, knapp vier Monate später, ist Schalke (neben Aston Villa und Sampdoria Genua) wieder an Inler interessiert. Trainer André Breitenreiter hat im kleinen Kreis einmal mehr bekräftigt, dass er ihn unbedingt will. Wie schon im Sommer. Sportchef Horst Heldt sagte damals im BLICK-Interview: «Er war einfach zu teuer für uns.» Vor allem das Gesamtpaket: Leicester zahlte 7 Millionen Franken Ablöse und gab ihm einen Drei-Jahres-Vertrag. Kein Problem mit den TV-Millionen in England.
Haben Sie sich schon beim Gedanken erwischt: Warum nur bin ich im Sommer nicht zu Schalke gegangen?
Nein, so denke ich nicht.
Wie knapp wars denn?
Ein Transfer zu Schalke war sehr nah. Ich hatte ein Gespräch mit Sportchef Horst Heldt und Trainer André Breitenreiter. Aber am Schluss stimmte das Gefühl für Leicester.
Weil es das finanziell beste Angebot war?
Nein. Das war zweitrangig. So denke ich nicht.
Können Sie sich einen Wechsel zu Schalke jetzt vorstellen?
Das macht alles mein Management. Wir sprechen erst, wenn sich alles konkretisiert und wir eine Entscheidung treffen müssen.
Das ist kein Nein.
Es ist alles offen. Ich werde in der Zwischenzeit weiterhin alles für Leicester geben, um mehr Ernstkämpfe bestreiten zu können.
Gökhan Inler posiert inzwischen vor dem Männer-Gefängnis von Leicester, etwa einen Kilometer vom Stadion entfernt. Ein imposanter Bau, der aussieht wie eine Burg und 1828 eröffnet wurde. Früher werden hier ab 1900 acht Menschen hingerichtet. Als letzter wird 1953 ein Mörder gehängt. Heute sitzen etwa 400 Häftlinge ein.
Reden wir über die Nati. Wenns so mit Ihnen weitergeht, verpassen Sie die EM.
Wieso? Es entscheidet immer der Trainer, was passiert.
Das heisst: Wären Sie Vladimir Petkovic, würden Sie sich aufbieten, trotz x Spielen auf der Bank?
Sofort. Ganz sicher. Ja.
Warum?
Ich bin der Captain. Ich bin ein Teamplayer. Und ich bin topfit.
Aber eigentlich hat Sie Petkovic als Captain doch schon demontiert. Indem er Sie im wichtigsten Spiel der Qualifikation gegen Slowenien auf die Bank setzte.
Natürlich hat es mich tief getroffen. Natürlich war jener Moment sehr schwierig. Aber ich habe den Entscheid akzeptiert und versucht, meine Mitspieler trotzdem anzufeuern.
Glauben Sie, dass Ihre Autorität vor der Mannschaft damit zerstört ist?
Nein. Die Spieler kommen genau gleich zu mir wie vorher. Ich spüre von vielen, dass der Respekt zurückkommt und sie mit mir reden wollen.
Haben Sie eigentlich mit Granit Xhaka gesprochen, der öffentlich Ihre Position als Mittelfeld-Chef forderte? Er sagte: «Irgendwann muss sich der Trainer entscheiden.»
Nein, mit ihm habe ich nicht geredet. Aber mit Vladimir Petkovic. Klar ist: Granit, Valon und ich müssen harmonieren, wir sind im Mittelfeld das Herz der Mannschaft. Klappt es mit uns dreien nicht, klappt es mit der Mannschaft nicht.
Bringt eine solche Aussage eines jungen Spielers nicht automatisch zwischenmenschliche Probleme?
Jeder kann sagen, was er will. Aber er muss es dann auch beweisen.
Ein grosses Thema unter den Fans ist immer die Nationalhymne. Hatten Sie lange, bis Sie diese gelernt hatten?
Das ging schon eine Weile. Auswendig lernen halt, das macht keinen grossen Spass. Aber es war mir wichtig. Ich finde einfach, dass ein Nati-Captain die Nationalhymne singen muss. Zwingend.
Bei der EM 2008 mussten Sie gegen Ihr Herkunftsland, die Türkei, spielen. Haben Sie da gesungen?
Nein, da war ich bei beiden Hymnen ruhig und konzentriert.
Wie war es damals, gegen Ihr Heimatland zu spielen?
Es war sehr emotional, sehr schwierig. Aber auf dem Feld musst du es ausblenden.
Wurden Sie in der Türkei mal angefeindet, weil Sie für die Schweiz spielen?
Nein. Die türkische Nati hat mich nie aufgeboten. Was viele Leute nicht mehr wissen: Als ich bei Aarau war, sagte ich öffentlich, dass ich für die Türkei spielen werde. Für die türkische U21 habe ich dann auch ein Freundschaftsspiel gemacht. Doch danach hörte ich nichts mehr aus der Türkei.
Und dann?
Kam Köbi Kuhn, der mich an der Ehre packte. Wenn einer mir so viel Vertrauen gibt, will ich ihm etwas zurückgeben. Darum verstehe ich, wie schwierig es heute für unsere Doppelbürger ist. Und warum dieses Auftaktspiel an der EM gegen Albanien so speziell wird.
Achtelfinal ist Pflicht in dieser Gruppe, oder?
Unsere Gruppe ist sehr heikel, auch wenn wir auf dem Papier die Nummer 2 sind. Frankreich ist Favorit. Albanien wird bis in die Haarspitzen motiviert sein und Trainer De Biasi sicher einen taktischen Kniff auspacken. Und gegen Rumänien haben wir 2012 ein Testspiel 0:1 in Luzern verloren.
Sie sind nach der EM 32 Jahre alt. Hören Sie in der Nati auf?
Ein Rücktritt nach der EM 2016 ist überhaupt kein Thema. Ich werde in der Nati ganz sicher weitermachen. Die WM 2018 in Russland mit 34 möchte ich noch spielen, das ist ein guter Challenge. Solange ich gesund und fit bin, möchte ich in der Nati spielen.
Inler sitzt inzwischen in der Bar Exchange, seinem Stammrestaurant in Leicester. Er ist begeistert vom Baustil, von der Schmalheit des Gebäudes. Die Kellner begrüssen ihn herzlich, und wehren sich später vehement dagegen, dass er sein stilles Mineralwasser bezahlt. „Fast wie in Napoli“, sagt Inler lachend.
Sie, der keinen Alkohol trinkt, war sicher noch nie in einem Pub, oder?
Doch, aber nur nachmittags. Mit Mineralwasser oder Fruchtsäften... (lacht)
Noch nie im Leben Alkohol getrunken?
Nein. Nicht mal probiert. Auch wenn mir alle sagen, Rotwein sei gut.
Wegen Glauben oder sportlicher Einstellung?
Wegen beidem.
Noch nie geraucht?
Nein.
Keinen Zug?
Nie.
Wie ist das Leben sonst in Leicester?
Die Sonne aus Italien fehlt mir. Aber sonst ist privat alles super. Ausser die Haussuche, die war anstrengend. Meine Verlobte Raquel und ich haben uns 33 Häuser angeschaut. Zum Kaufen, zum Mieten, möbliert, unmöbliert. Doch wir fanden lange nichts, das uns gefiel. Wir haben auch Hunde und wollten deswegen etwas mit Garten. Erst nach zweieinhalb Monaten, die wir im Hotel verbrachten, fanden wir das passende Objekt.
Zu kaufen wäre nicht so ideal, wenn Sie im Januar schon wieder wechseln.
Nein, das jetzige Haus, Nummer 33, ist gemietet. Kurz vorher wollte ich Haus Nummer 32 kaufen. Zum Glück ist es nun so rausgekommen.