Edimilson Fernandes (20) lebt im East End seinen Londoner Traum. Heimweh nach Fully? Keine Spur. Im Gegenteil. Ein Besuch in den Docklands.
«Nichts da! Nie schlägst du mich! Ich bin vieeel besser!» Edimilson Fernandes hat keine Augen für die faszinierende Aussicht aus der Fensterfassade seines Appartements in den Londoner Docklands. Weder Themse noch O2-Arena interessieren ihn jetzt. Er ist in seinem Element. Baby Foot, wie die Welschen sagen. Töggele. Die Schmach einer Niederlage gegen seinen Cousin Dylan kommt für Edi nicht in Frage. Da ist er wie jeder Sportler. Niederlagen sind Hassobjekte. Im Baby Foot, auf der Playstation – und auf dem Feld. Edi gewinnt. Wie immer.
Rückblende, 23. August 2016, Morgentraining des FC Sion. Peter Zeidler ist seit zwei Tagen Coach. Nichts deutet im Training darauf hin, dass der Deutsche sein Juwel eigentlich schon verloren hat. Weil sich der FC Sion und West Ham über den Transfer einig sind. Nicht ganz neun Millionen zahlen die reichen Londoner für den 1,90-Meter-Mann.
Barth Constantin, Sportchef und Präsidentensohn, zitiert den U21-Internationalen nach der Einheit in sein Büro. «Er sagte mir, ich solle am Nachmittag in Genf in ein Flugzeug Richtung London steigen. Stellen Sie sich das vor: Ich hatte nichts Konkretes gehört. Und da sagt man mir, ich solle sofort in den Flieger sitzen! Ich bin doch noch nicht bereit dazu, war mein erster Gedanke. Doch dann ging alles ultraschnell. Das erste Gespräch mit Trainer Slaven Bilic am gleichen Abend, der mich fragte, ob ich anderntags gleich loslegen könne. Doch ich hatte ja nicht mal meine Fussballschuhe dabei! Dennoch machte ich gleich das erste Training mit. Danach der medizinische Check. Und die Unterschrift unter den Vertrag bis 2020. Das alles war fast ein Schock!»
Kouyaté sein bester Kumpel
Sechs Monate ist Edi nun in London. Die ersten drei Wochen lebte er im Hotel Radisson Blu Edwardian an der New Providence Wharf. Weit ausserhalb des Stadtkerns. In den Docklands im East End Londons, wo einst der grösste Hafen der Welt war. Zu der Zeit um die Jahrtausendwende, als West Ham als Betriebsmannschaft der Werftarbeiter gegründet wurde.
Heute gibts den Hafen nicht mehr. Dafür Büro- und Wohnkomplexe wie Canary Wharf. Die Nacht im billigsten Zimmer im Radisson Blu kostet 300 Franken. Und für Edis Appartement im Komplex ohne Namensschilder an den Klingeln und mit aufmerksamer Security an der Fairmont Avenue gleich neben dem Hotel müsste man wohl rund vier Millionen Franken hinblättern, wollte man die Wohnung kaufen.
Es sind zwei Welten, die «handglismete» Infrastruktur des FC Sion und die von West Ham. Ein Spieler eines Premier-League-Klubs ist rundum betreut. Telefonanruf genügt. Weil aber Edis Englisch noch Verbesserungspotenzial hat – er hat nach seiner Ankunft zwei, drei Schnellbleiche-Stunden genommen, mehr nicht – übernimmt sein Best Buddy bei West Ham diesen Job: Der Senegalese Cheikhou Kouyaté ist seit 2014 bei den Hammers und weiss, wie der Laden läuft.
Zweite wichtige Bezugsperson für Edi ist der Franzose Arthur Masuaku. Sein dritter Kumpel, tja, der hatte keinen Bock mehr auf West Ham. Superstar Dimitri Payet verliess den Klub nach einer unschönen Schlammschlacht. Der Mann aus La Réunion drohte mit Boykott und erzwang seinen Rückwechsel für 32 Millionen Franken zu Marseille. «Er hat mir gesagt, dass er gehen und allenfalls nicht mehr trainieren werde. Er zeigte mir Fotos vom Stade Vélodrome. Da spürte ich: Er hat die Nase voll.» Die Nase voll von London.
Keine Metro trotz Verkehrschaos
Bei Edimilson ist das pure Gegenteil der Fall. Er gerät ins Schwärmen und seine Augen leuchten, wenn er von der Millionenmetropole redet: «London ist einfach toll! Wunderbar. Das ist doch viel besser als das kleine Wallis. Als Fully, wo ich aufgewachsen bin. All die vielen Leute! Ich lebe definitiv lieber in einer richtigen Stadt. Nein, Lust auf eine Rückkehr ins Wallis habe ich im Moment überhaupt nicht!»
Er schaut hinaus auf die O2-Arena. Seine Augen glänzen. «Siehst du die Arena? Und die Gondeli daneben. Keine Ahnung, wohin die führen. Aber ich werde sicher auch einmal drin sitzen. Und auch ein Konzert in der Arena sehen. Denn alle Grossen spielen hier. Zuletzt Drake.»
Auch London will er näher erkunden. Eines Tages. Doch vorerst liegt der Fokus voll und ganz auf dem Fussball. Da ist wenig Ablenkung erlaubt. Und wenn, dann ist Shopping angesagt. «Es hat gleich ein tolles Center ganz in der Nähe, in Stratford», sagt Edi. «Da liebe ich es hinzugehen, um mich mit Sneakers und Klamotten einzudecken.» Lieblingsmarken? «Christian Louboutin und Nike für die Schuhe. Philipp Plein und Kenzo für Kleider.» Das heisst dann: Schuhe für 800 Franken, Lederjacken für 4000.
Und doch. Ein einziges kleines Londoner Manko findet Edi. «Nach 17 Uhr sind die Strassen hoffnungslos verstopft. Wenn ich da in die Oxford Street will, habe ich eine Stunde für ein paar wenige Kilometer.» Aber da hats doch eine Metrostation in der Nähe und die Docklands Light Railway gleich vor der Haustüre? «Nein, ich fahre lieber Auto.»
«Gluggere» Gelson
Auf dem kleinen Parkplatz steht ein Männertraum mit Walliser Kennzeichen, den sich Edi nach London hat bringen lassen: Ein BMW X5, schneeweiss, pechschwarze Felgen. «Gelson hat das alles organisiert», sagt Edi. Organisiert? «Klar. Er hat veranlasst, dass das Auto vom Wallis nach London gefahren wurde.» Der offizielle Autosponsor des Klubs ist wohl Mercedes, «aber ich hänge sehr an diesem Auto», sagt Edi. «Den habe ich lieber.» Rechtsverkehr? «Kein Problem mehr. Ich bin bloss am ersten Tag einmal falsch abgebogen.»
Kouyaté mag wohl der Best Buddy sein. Aber die «Gluggere», die ist Gelson Fernandes (30). Älterer Cousin von Edi. 62-facher Nationalspieler. Weitgereist. Mit Start auch in der Premier League, beim grossen Manchester City. Danach Stationen in Frankreich, Italien, Portugal und Deutschland. Seit 2014 bei Stade Rennes unter Vertrag. Ein Wirbelwind, stets in Bewegung. Mit einem Mundwerk ausgestattet, das kaum zu bremsen ist. Und das in sieben (!) Sprachen.
Gelson kümmert sich – man ist geneigt zu sagen: liebevoll – um Edi. Aus der Ferne ennet dem Ärmelkanal. Er ist der Edi-Organisator. Selbst die Pressetermine koordiniert er in Zusammenarbeit mit der Kommunikationsabteilung von West Ham. «Ein Interview-Termin zwei Tage vor einem Spiel? Niemals! Da braucht der Spieler Ruhe!»
Mit «der Spieler» meint Gelson Edi … Und der ergänzt: «Wir sind wie Brüder.» Gelson fügt hinzu: «Das ist nicht kompliziert. Vertrauen zu finden ausserhalb der Familie ist schwierig. Deswegen halte ich meine schützende Hand über ihn. Ausser den vertraglichen Dingen. Die regeln unsere Berater und Anwälte.» Gelson, der Protektor. «Erstaunlich – nicht?», sagt Edi. Erstaunlich, ja. «Man vergisst in der Tat fast, dass Gelson immer noch selber als Profi aktiv ist.» Jeden Tag kabeln die beiden. Edi: «Wir reden über alles.»
«Habe mehrere Freundinnen»
Die Familie ist Edi heilig. «Deshalb bin ich hier auch fast nie alleine», berichtet er. «Meine Eltern sind eben wieder abgereist. Sie kommen alle paar Wochen. Nun ist Dylan, der sonst in Yverdon wohnt und in der zweiten Liga kickt, noch da. Und wenn niemand von der Familie da ist, gehe ich mit einem der anderen Spieler essen. Gleich um die Ecke ist ein Italiener. Der ist gut.» Und die Kochkünste? «Die gibt es nicht wirklich. Mit Dylan gehe ich weniger aus. Aber da lassen wir Pizza kommen. Gestern aber haben wir Bolognese gemacht.» Mit frischer Sauce? «Keine Ahnung. Die hat Dylan gekocht …» Und danach ziehen sich die beiden einen Film rein. Das macht Edi lieber als auf der Playstation zu spielen. «Ich mag Action. Mein Liebling ist Charlie Chan.»
Und Frauen? Edi lacht. «Ich habe mehrere Freundinnen. Hey, hat jemand gesagt, ich sei seriös …» Also: Wir nicht. «Ich habe ein paar offizielle Freundinnen. Ein paar weniger offizielle.» Edimilson grinst. Dem Jungen gehts rundum gut in London.