Sein BVB kickt bisweilen orgiastisch, er selbst ist Deutschlands begabtester Trainer. Gleichwohl scheiden sich die Geister an Thomas Tuchel (43). Heute (live ab 20.45 Uhr) gilt es ein 0:1-Rückstand gegen Benfica zu drehen.
Leicht gebeugt schlurft der Spargeltarzan durch die Coaching-Zone, als schultere er eine Last so gewaltig wie ein Himmelskörper. Die Hände im schicken, dunklen Sakko, seziert er seine Spieler mit ruhelosem Blick. Urplötzlich packt ihn der Rappel, er gestikuliert, hadert, das Antlitz verzerrt. Sein Meisterschütze hat erneut eine Chance vertan.
Thomas Tuchel heisst der Mann, Coach des spektakulärsten Talentschuppens Europas. Im Achtelfinal-Hinspiel verliert seine Borussia gegen Benfica trotz eklatanter Überlegenheit. Ein Team in der Pubertät: mal berauschend, mal grottig. Auf und Ab als einzige Konstanz –das weckt Zweifel. «Kriegt Tuchel die Kurve?» titeln die Medien und stilisieren das Rückspiel zum Trainertest.
Argwohn begleitet Tuchels Wirken beim BVB. Wieso bloss scheiden sich an diesem Coach die Geister? Hochbegabt ist er, aber ist er vielleicht zu begabt, zu unnahbar, zu überzeugt von sich und seiner Mission?
«Fussball ist eine grosse Leidenschaft»
Sein Werdegang zeigt einen bodenständigen Menschen, frei von branchenüblichen Allüren. Geboren im Schwäbischen, Studium der Betriebswirtschaft. Heirat mit der langjährigen Freundin Sissi (heute 41), zwei kleine Töchter. Sorgsam schützt er seine Familie vor medialen Zumutungen. Privates bleibt privat, weitgehend. «Fussball ist eine grosse Leidenschaft», sagt er, «aber Fussball ist nicht alles im Leben.»
Die Borussia übernimmt er im Jahre sieben der Ära Klopp, der Volkstribun ist ausgepowert. Viele fragen sich: Kann einer, der sich um Beliebtheitswerte schert, die Lichtgestalt ersetzen im Klub, der mit «Echte Liebe» wirbt? «Kloppo» war erfolgreich wie keiner zuvor, sein Hurrastil verkörperte die mythisch aufgeladenen Werte des Ruhrgebiets.
Tuchel startet furios. Er feuert Tonis Pastaservice, der den BVB verköstigt («fettige Nahrung»). Dann entkloppt er den Klub wundersam rasant, wird superduper Zweiter. Im Sommer ziehen Hummels, Gündogan und Mkhitaryan weg, eine Garde blutjunger Hochbegabter kommt. Feine Risse öffnen sich zwischen Coach und Führung ob der Frage, wie der Umbruch zu gestalten sei.
Tuchels Leitstern heisst Pep Guardiola. Vom Spanier «lernte ich alles, das dieses Spiel ausmacht», sagt der Schwabe. Sagenumwoben ihr Date in Münchens Nobel-Restaurant Schumann’s, wo sie mit Salz- und Pfefferstreuer über angewandte Taktik philosophierten.
«3 gegen 3 plus 2 im Mittelkreis»
Guardiola und Tuchel sind Perfektionisten, Modernisierer, Taktik-Nerds, den totalen Fussball im Blick. Konzept-Trainer, felsenfest überzeugt von sich und ihren Ideen. Wer ihre Trainings sieht, den verblüffen die Parallelen. Kurze Einheiten, intensiv, Spielformen wie «3 gegen 3 plus 2 im Mittelkreis». Im Zentrum: Positionsspiel, Passpräzision, Umschalten. Knapp der Raum, maximal zwo Ballkontakte. Dichtestress!
Beide neigen zu calvinistischem Arbeitsethos: Mensch ist zur Arbeit geboren wie Vogel zum Fliegen. Das gilt besonders für Genies und Möchtegerns. Berühmt das Video, in dem er einen Kicker zusammenstaucht: «Du denkst nur an dich, nie an die Mannschaft, Scheisse!»
Obwohl Tuchel das Sakrileg begeht, seine Eleven auch mal öffentlich anzuzählen – sie stützen ihren Trainer. Gäbe es ernsthafte Dissonanzen, sie würden gnadenlos breitgetreten. Indes: Tuchel wird, wie Guardiola, respektiert, nicht geliebt. Er ist kein Knuddeltyp, kein Bauernfänger. Dünn wie ein Hungerkünstler, verkörpert er distanzierte Askese. Ein ambitionierter, gescheiter Mann, analytisch, anstrengend, stolz.
Solche Charakterzüge erklären, neben wechselhaften Erfolgen und einigen Personalien, das Geklön beim BVB. Die Fan-Foren schwanken zwischen «Tuchel besser als Klopp!» und «Wer erlöst uns von Tuchel?» BVB-Boss Watzke sagt: «Wir müssen erst noch ein Gefühl entwickeln, ob eine Vertragsverlängerung Sinn gibt.»
Worte, die Tuchel ins Herz treffen und darin bestärken, sein Schaffen werde zu wenig gewürdigt. Er hat, mit Azubi-Kickern, Kloppos defensive Spielanlage weiterentwickelt. Sein Team zelebriert auch mal Ballbesitz, kickt mitunter orgiastisch. Die Unwucht zwischen hochkarätiger Offensive und mauer Defensive, Grund für manche Pleite, lastet er den Bossen an.
Tuchel weiss: Sein Ruf ist exzellent, Arsenal und Barça haben ihn im Visier. Seine Frau ist Münchnerin, er hat eine Wohnung in München. Der Spargeltarzan ist zu Höherem berufen – früher vielleicht, als sie bei Gelb-Schwarz glauben.