Rad-Reporter Hans-Peter Hildbrand begleitet Gold-Cancellara seit 20 Jahren. Persönliche Erinnerungen an Triumphe und Tragödien.
«Hör mir auf mit diesem Rio, jetzt bin ich an der Tour de France», sagt Fabian Cancellara im Juli dieses Jahres unmissverständlich. Ich bin verblüfft! Fäbu ist im Hier und Jetzt. Wird er im Spätherbst seiner Karriere gar zum Zen-Buddhist?
Dann beginnt er zu fluchen. Er hat keinen guten Tag erlebt. Er ist sauer. Stunden vorher ist er sein letztes Zeitfahren an der Tour gefahren – Platz 23 mit drei Minuten Rückstand. Fäbu tigert im Hotel «Domaine des Oliviers» in Pierrelatte (Fr) herum. «Ich habe Zeit für nichts, ich komme zu nichts, dieser tägliche Stress geht mir auf die Nerven. Gott sei Dank ist es bald vorbei.»
Die Tour fährt er ja nur widerwillig. «Ich fahre noch die Etappe ins Wallis, dann gebe ich auf – aber schreib das nicht.» Ich schmunzle. «Das ist ja nichts Neues», sage ich. «Aber was ist mit Rio?», hake ich nach. Das hätte ich besser nicht getan, Fäbus Antwort ist nicht druckreif. Für mich ist klar: Der wird in Rio keine Medaille holen!
Das Olympia-Zeitfahren gucke ich dann doch am TV, obwohl ich in 36 Berufsjahren genügend Velorennen gesehen habe. Wenigstens bis zur ersten Zwischenzeit, dann wird sich mein Eindruck aus der Tour wohl bestätigt haben.
So grausam kann man sich täuschen! Fäbu überrascht mich gewaltig, und es ist gut so. Er gewinnt sein zweites Gold im Zeitfahren, acht Jahre nach Peking. Weil er in den letzten Tagen seiner 16-jährigen Karriere seine Taktik gewechselt hat.
Vor Peking kündigte er vollmundig an: «Alles andere als Gold ist eine Niederlage». Vor Rio sagt er nichts, gar nichts. Nie verrät er, was er alles in diese Spiele investiert hat! Nie redet er über das Training, nie über die strenge Diät. Kein Wort über seine Ziele nach der Tour de France. Jetzt ist er wieder Olympiasieger – und das noch alla grande!
Kennt er den grossen Satz des Philosophen Sokrates «Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden»? Oder hat er sich an seine Anfänge als Radprofi erinnert? Ich kenne Fabian, seit er 1998 in Valkenburg Junioren-Weltmeister im Zeitfahren wurde. Mit viel Babyspeck und wenig Kraft. Damals die grosse Schweizer Hoffnung. «Zweimal als Junioren-Weltmeister und bei den Espoirs WM-Zweiter im Zeitfahren sind schöne Erfolge», sagt er mir drei Jahre später. «Aber sie zählen jetzt nichts mehr.» Fäbu ist damals keine 20 und schon Radprofi. «Ich muss mich jetzt selbst freischwimmen.»
Im italienischen Mapei-Team sind sie stolz. Cancellara ist der zweitjüngste der 538 lizenzierten Radprofis der 1. Division. 1,86 m gross, 80 kg schwer. Die Lehre als Elektromonteur bricht er ab. «Sport und Lehre vertrugen sich nicht.» Schnell sehe ich, dass der junge Cancellara alles kann: bergfahren, zeitfahren, sprinten. Und er hat einen tollen Charakter, er hat beide Füsse auf dem Boden.
Seither sind 15 Jahre vergangen. Mit 75 Siegen, vielen Niederlagen, schweren Stürzen. 2009 sah ich ihn nach der Strassen-WM in Mendrisio am Boden sitzen – geschlagen! Er war der Stärkste wie auch drei Jahre später an den Olympischen Spielen in London, als er in die Balustraden flog. Er hat Titel und Medaillen vergeben, weil er sich zu stark fühlte und Fehler machte. Jetzt hat er es allen ein letztes Mal gezeigt. Er ist der beste Zeitfahrer aller Zeiten. Wenn ihm die Strasse allein gehört, dann ist er nicht zu schlagen. Er ist und bleibt der Meister des Sekundenzeigers.